Meine Texte halten nicht unbedingt von mir durchlebte Situationen fest. Dennoch fangen sie auf empathische und authentische Weise meine persönliche Sicht auf das Leben ein. Sie sind durchwoben von Erinnerungen, alltäglichen Begegnungen, der Liebe zu meiner Familie und dem Leben an sich.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.
Der Duft unbeschwerter Kindheitstage lag in der Luft. Die Holunderbüsche standen in volle Blüte.
Anna liebte diesen Ort, der mit den Rad nur wenige Minuten hinter dem Stadtrand lag. Längst hatte die Natur ihn zurückerobert. Der Bretterzaun war gebrechlich und schien sich nur noch durch seinen starken Willen aufrecht halten zu können. Hüfthohe Gräser, Schafgabe, Ginster und anderen Wildpflanzen hatten Großmutters Gemüsegarten verschluckt. Ranken bedeckten die Hütte, die früher gerade mal Platz für eine kleine Sitzgelegenheit und Gartengeräte beherbergt hatte.
Anna starrte auf das überdimensionale Schild. »Wir begleiten Sie in Ihre Zukunft!« Ein in das Auge der Kamera grinsender Mann mit Bauhelm und Anzug sah Anna vom Werbeplakat direkt in die Augen.
»Nein, du stiehlst mir die Vergangenheit.«
Inspiriert durch Prosa ist-innen #stadtrand
Drei breite Stufen führten zum weit geöffneten Portal der kleinen Kirche. Ihre Mauern aus hellem Naturstein strahlten unter dem Licht der Sonne eine in sich ruhende Würde aus. Zu beiden Seiten schmückten kunstvoll gefertigte Blumengestecke den Einlass. Ihre weißen und cremefarbenen Blüten wippten einladend in der Sommerbrise.
Stella stand auf dem obersten Podest vor einem geschwungenen Rahmen, der mit goldenen Buchstaben auf die bevorstehende Zeremonie hinwies und das Foto eines jungen Paares zeigte. Sie erkannte Glück, wenn sie es sah. Auch sie hatte einst darin gebadet.
Jener Tag kam ihr in den Sinn, an dem sie das letzte Mal vor dieser Kirche gestanden hatte. In einer Zeit, die fast ein ganzes Menschenleben zurücklag. Ihre Erinnerung beraubte sie der Fähigkeit, das Kircheninnere zu betreten. Seit Stella die Einladung zur Hochzeit in ihren Händen gehalten hatte, war es genau dieser Schritt gewesen, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Alles in ihr wollte wieder in das Taxi steigen, mit dem sie vor wenigen Minuten hier angekommen war.
»Sind Sie sicher, dass sie hier aussteigen wollen?«, fragte der Taxifahrer die betagte Reisende zum wiederholten Male. Diese nickte, nahm das Gepäck entgegen und trat einen Schritt zurück.
Erst, als das Motorgeräusch verstummt war, erlaubte Ava sich, die Umgebung zu betrachten. Wie oft hatte sie als junges Mädchen von hier oben diese Aussicht in sich aufgesogen? Die anheimelnde Idylle hatte ihr damals eine friedvolle Welt vorgegaukelt, während der Klang der Kirchenglocke Seelenfrieden versprochen hatte.
Nie hatte sie fortgewollt. Bis zu jener Nacht, in der sie es musste.
Schon seit dem späten Abend schickte der Himmel abertausende von Schneeflocken auf die Erde. Wie kleine Ballerinas in weißen Kleidchen, dachte Annie bei sich und schaute ihnen gebannt durch die große Scheibe im Wohnzimmer zu. Sie war bereits seit einer Weile wach und träumte mit offenen Augen vor sich hin. Die Erwachsenen sagten immer, sie hätte eine blühende Fantasie. Annie schaute dann immer an sich hinab, konnte aber nie kleine Blüten erkennen. Sicherheitshalber stand sie auch jetzt auf und streckte ihre Arme und Beine von sich. Nein, auch diesmal entdeckte sie nicht ein einziges Blütenblatt.
Der Alte betrachtete die Auslage des kleinen Antiquariats. Plötzlich traten Tränen in seine Augen.
***
Giulietta strich über den Einband ihres Lieblingsbuches. An Lesen war nicht zu denken.
Immer wieder fand sie sich am gestrigen Nachmittag wieder. Der Spaziergang durch den herbstlichen Wald hatte ihrer Seele gutgetan. Versonnen drehte sie ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ein Andenken bis zu unserem nächsten Wiedersehen«, hatte ihr Mann gesagt. Dabei hatte er ihr vorsichtig das Blatt aus dem Haar gezupft und mit einem Handkuss überreicht. Ein Buchenblatt. Braun wie seine Augen.
Sie musste nur die Wochen bis seinem nächsten Heimaturlaub überbrücken. Dann wäre ihre Welt für wenige Stunden wieder in Ordnung. Sie schlug das Buch mittig auf und legte das Blatt andächtig zwischen die Seiten.
Zurückhaltende Klänge von Chopin schwebten durch den opulent geschmückten Saal. Die geladenen Gäste gaben sich stilvoll und hatten ihr aufgesetztes Lächeln und geheucheltes Interesse perfektioniert.
Erhobenen Hauptes schritt Elisa an der Seite ihres Gatten durch die Menge. Das war nicht ihre Welt.
Er hatte einen Arm um ihre schmale Taille gelegt. Was wie eine liebevolle Geste wirkte, war seine stumme Mahnung an Elisa, sich standesgemäß zu benehmen.
Ausgesucht höflich nickte sie den Gesprächspartnern ihres Mannes zum Abschied zu.
»Eine ausgezeichnete Wahl.«
»Und so passend.«
Geflüsterte Worte, die Elisa dennoch nicht entgingen. Sie sehnte sich danach, mehr als nur eine lebende Requisite zu sein.
In Gedanken sah sie den gepackten Koffer unter ihrem Bett. Morgen. Diesmal würde sie wirklich gehen.
Den Lärm der Renovierungsarbeiten im Haus ausgeblendet, saß Ava in Großvaters alten Ohrensessel. Ihre Hand strich wie von selbst über den einst robusten Stoff, der an den Armlehnen stark ausgedünnt war. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen.
Eine dünne Staubschicht hatte das früher bis auf den letzten Zentimeter gefüllte Bücherregal bedeckt. An der Wand gegenüber stand ein Holzbett mit einem altmodischen Überwurf.
Schwer lastete das Gewicht der Erinnerungen auf ihr. Es ging viel zu schnell.
An der verblichenen Blümchentapete blieb ihr Blick haften.
»Dreitausend Blumen habe ich gezählt«, hörte sie ihren Großvater sagen. Ganz so, als läge er in jenem Bett, an das eine Krankheit ihn seine letzten Lebenswochen gefesselt hatte. Nein, dieses Zimmer würde keinen Tapetenwechsel erhalten.
Anna saß auf einer Bank und betrachtete den im Schneematsch versinkenden Stadtpark. Es grenzte an ein Wunder, dass sie auf dem Weg nicht ausgerutscht war. Weißfeuchte Klumpen rutschten von den tiefhängenden Ästen und landeten leise schmatzend auf dem Boden. Auf dem künstlich angelegten und bis vor kurzem zugefrorenen See hatten sich erste Eisschollen aus der Oberfläche gelöst.
Sie schob die Kapuze ihrer Winterjacke über die Mütze und steckte die Hände zurück in die Taschen. Anna fröstelte. Ihr war nur allzu bewusst, dass die kühlen Temperaturen nichts damit zu tun hatten. Wie der Schnee alles Grau des Parks verborgen hatte, so hatten erlogene Wahrheiten den Schmutz in ihrer Ehe bedeckt. Fünf Winter lang. Bis heute. Heute begann für sie das Ende ihrer persönlichen Winterzeit. Tauwetter.
»Das Leben ist kein Picknick.«
Der Satz ihres Vaters wog schwer. Seit sie denken konnte, hatte er sich wie ein Ohrwurm durch ihr Leben gefressen.
»Das Leben kann sehr wohl wie ein schönes Picknick sein kann«, hatte sie ihm als Teenager einmal trotzig entgegnet. Als Antwort schnellte seine Hand hervor und hinterließ einen roten Abdruck auf ihrer Wange. Nichts Neues.
Um sich vom Gewicht der Erinnerungen nicht in die Knie zwingen zu lassen, dachte sie an die bunte Decke, die unter der Kühltasche im Kofferraum lag.
Neben ihrem Mann im Auto sitzend, starte sie durch das Friedhofstor, hinter dem der schmerzende Teil ihrer Vergangenheit seine letzte Ruhe gefunden hatte.
»Danke, dass du mein Leben zu einem Picknick werden lässt.«
Verstehend berührte ihr Mann sanft ihre Schulter und startete den Motor.
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